RW 39

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Unser kulturelles Erbe – Kunst

Ein Genosse schildert seine Erfahrungen als Chorsänger in der ehemaligen DDR über das kulturelle Erbe der Menschen

Von RW-Redaktion

Heribert, 27.7.2025

Unser kulturelles Erbe – Kunst

Shdanow bemerkte1: »Die Bourgeoisie ließ das literarische Erbe zerflattern, wir sind verpflichtet, es sorgsam zu sammeln, zu studieren und durch kritische Aneignung weiterzuentwickeln«. Dieses Zitat beziehe ich auf Kunst und Kultur insgesamt.

Was aber ist Kunst, der wohl sichtbarste Teil des kulturellen Erbes? Lenin stellte fest: »Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß sie in ihrem Fühlen, Denken und Wollen verbinden und emporheben. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln.« In einem Streitgespräch kam Goethe zu einem ähnlichen Schluss. Wichtig ist: Goethe und Beethoven waren politische Künstler.

Ich möchte mich auf die Musik stützen. Was ist in ihr versteckt?

Zu dem Vortrag regte mich der Satz aus dem RW 39 an: Beethoven »studierte und beherrschte alles Bisherige ausführlich, nahm alles Wertvolle der Musiktradition auf, strich Überholtes rücksichtslos und entwickelte vorherige Formprinzipien zu einer neuen Qualität weiter«2. Was gehörte zum »Bisherigen«? Mozart hatte z. B. die Ouvertüren zu Programmusiken gemacht. Wie Händel 50 Jahre vorher in England wollte er auf dem Kontinent die Künstler aus der erdrückenden Abhängigkeit von Adelshäusern und Kirche lösen. Beethoven vollendete das. Er entwickelte die Sonate weiter, indem er den Schwerpunkt auf die Durchführung legte, wo die Widersprüche bearbeitet und gelöst wurden. Er trug auch zur Weiterentwicklung des Klaviers bei. Über Händel sagte er »Geht hin und lernt, mit wenig Mitteln so große Wirkungen hervorzubringen«3. Bei Händel bekam z. B. das Oratorium, das bisher nur ein Ereignis beschrieb, eine Handlung – mit Widersprüchen und ihrer Lösung. Seine späteren Oratorien basieren auf dem Alten Testament: Er erkundete die dort niedergeschriebene Geschichte materialistisch. Und er baute auf die Bibelkundigkeit seines Publikums, der breiten Volksmassen. Wer ist der Akteur? Es sind die Menschen und die Menschenmassen, die die Welt voranbringen, die um ihr gelobtes Land kämpfen. Josua erfährt von einer Frau, wie er Jerichos Mauern zum Einsturz bringen kann. Das war nicht Gottes Werk. Whistleblower gab es also schon damals.

Betrachten wir das »Halleluja« aus dem Messias. Vordergründig ist das Kirchenmusik. Beschäftigt man sich genauer damit, sieht man, dass der Messias eine Aufgabe erfüllen muss, um als Erlöser wahrgenommen zu werden: Er muss das Bestehende »zerschlagen mit dem Eisenzepter wie des Töpfers Gefäße«. Unmittelbar danach wird das mit dem Halleluja, dem Bekenntnis, dem Credo des Volkes zu diesem umstürzlerischen Gedanken, bestätigt. In der Zusammenführung mit dieser Passage ist das eine Hymne der bürgerlichen Revolution! Händel wollte eben mehr erreichen, als die Menschen nur unterhalten zu haben – ein Standpunkt, den wir eingangs von Lenin hörten. 80 Jahre später: Beethoven nahm zwei Gedichte von Goethe. Die »Meeresstille« und die »Glückliche Fahrt«. Vordergründig einfache Naturbetrachtungen. Durch Beethoven ändern die Texte ihren Charakter: die Revolution beendet die drückende Stagnation im Feudalismus und gibt eine Perspektive4.

Es lohnt sich, Shdanows Worte zu beherzigen. Das betrifft auch den Schatz an Volksliedern. In unserer Singebewegung vermisse ich sie meist. Der große Reichtum des Erbes wird kaum erlebbar. Lassen wir ihn nicht »zerflattern«. Heine bemerkte nicht umsonst, dass, wer seine Herkunft nicht kennt, auch keine Zukunft hat.

Das ist für mich eine Seite im Kampf für ein neues Ansehen des Sozialismus als gesellschaftliche Perspektive, als die echte Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung.

1Walther Victor, „Goethe Ein Lesebuch für unsere Zeit“, Thüringer Volksverlag Erfurt, 1950. Das Zitat steht auf einer der vorderen Titelseiten und stammt aus dem Jahr 1934.

2S. 138

3Zitat im Eingangsbereich des Händelhauses in Halle.

4Die „Glückliche Fahrt“ endet mit den Worten „Schon seh ich das Land!“