RW 38
Pawlows Erkenntnisse müssen dialektisch negiert werden!
Auszug aus einem Briefwechsel mit einem Genossen zur Behandlung von Pawlow im RW 38 und der Frage der höheren Nerventätigkeit.
C,RW-Redaktion RW 38, 18.05.2025
Lieber Genosse,
ich habe Deine Überlegungen zum Abschnitt Psychologie im RW 38 »Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft« von der RW-Redaktion bekommen mit der Bitte, Dir auf den letzten Brief zu antworten.
Im Grundsatz sind wir uns zum RW 38 einig. Stefan Engel hat Deine Ausführungen kritisch gewürdigt. Er kritisiert grundlegende Fehler und weist darauf hin, dass der RW kein Lehrbuch der Psychologie sein kann.
Aus Deinen Briefen geht hervor, dass Du mit der Beurteilung neurobiologischer Erkenntnisse von Bauer und der Beurteilung von I.P. Pawlow im RW 38 nicht einverstanden bist. Deiner Meinung nach hat die RW-Redaktion die Erkenntnisse I.P. Pawlows über die Funktionsweise des psychischen Apparats falsch bewertet, ihn undialektisch negiert und sich von Erkenntnissen der bürgerlichen Hirnforschung (J. Bauer) fehlleiten lassen.
Der RW anerkennt Pawlows große Fortschritte über die Funktionsweise des Nervensystems. Er ersetzte die religiös behaftete »Seele« durch Naturwissenschaft. Als ein Materialist war er ein gefürchteter Gegner der Psychoanalytiker und Behavioristen.
Was die Bewertung Pawlows betrifft, so machst Du da Fehler. M.E. rühren sie daher, dass Du in einigen Punkten die Pawlowsche Lehre und nicht die proletarische Weltanschauung und Methode als Ausgangssynthese der Beurteilung psychischer Fragestellung gemacht hast. Ich sehe auch ein Problem in einem wenig schöpferischen Umgang mit den Neurowissenschaften vergangener Jahrzehnte, weshalb Du bei ihr keinen Fortschritt erkennst. Ich möchte das an einigen Punkten verdeutlichen.
Erstens.
Bekanntlich spielen unvermittelte Gegensätze mit starken Erregungsprozessen und mangelnder Hemmungsfähigkeit in Pawlows Lehre eine wichtige Rolle. 1 In wissenschaftlichen Experimenten mit Laborhunden hat er ihre Folgen für ihr Nervensystems erforscht, streng materialistisch die Bedingungen untersucht, die es schädigen oder den Zusammenbruch ihrer Funktionen nach sich ziehen. Seine Arbeit war eine herausragende Leistung seiner Zeit; sie führte den Materialismus ein in die bis dahin herrschende religiöse »Seelenlehre«, weshalb er von Lenin auch geschätzt worden ist.
Man darf jedoch die Pawlowsche Lehre nicht ohne Weiteres auf Menschen übertragen. Seine Erkenntnisse wurden mit Hunden gewonnen; die Bewusstheit spielte kaum oder keine Rolle. Stefan hat kritisiert, dass – entgegen Deiner ursprünglichen Darlegung – der Widerspruch zwischen kleinbürgerlicher Denkweise und Wirklichkeit i.A. kein unvermittelter Widerspruch ist und auch dass die Gesellschaft sonst gar nicht funktionieren würde. Du hast hier einfach die Laborergebnisse Pawlows zur Ausgangssynthese gemacht und auf den Menschen übertragen. Der RW 26 »Der Kampf um die Denkweise in der Arbeiterbewegung« führt dazu aus, dass sich die kleinbürgerliche Denkweise in die proletarische verwandeln kann – und umgekehrt. Wäre das nicht so, könnten kleinbürgerliche Intellektuellen nicht Bündnispartner der Arbeiterklasse sein oder auf deren Klassenstandpunkt übergehen. Wenn man das nicht beachtet, sind Dogmatismus und sektiererische Fehler die Folge. Unsere Linie muss die Ausgangssynthese bei der Analyse menschlicher psychischer Erkrankungen sein.
Im Übrigen hat Pawlow die Rolle der unvermittelten Gegensätze nur als eine von mehreren Ursachen psychischer Erkrankungen bezeichnet. Er schreibt: »Die Momente, die bei uns bisher die Neurosen bedingten, sind folgende: 1. zu starke oder zu komplizierte Reize; 2. die Überanstrengung des Hemmungsprozesses; 3. die Kollision (unmittelbare Folge) beider gegensätzlicher Nervenprozesse; und endlich 4. die Kastration.« 2
Zweitens.
Toxisch bedingte psychische Störungen sind bei Pawlow meines Wissens kein Thema. Er hat in seiner Tätigkeit nur »soziale Lebenserfahrungen« (von Tieren) als Quelle psychischer Fehlentwicklung untersucht. Eine Ursache dafür ist sicher, dass es zu seiner Zeit noch keine globale Umweltkrise gegeben hat. Aber noch heute werden in der Psychodiagnostik und Psychotherapie toxische Belastungen nicht oder als untergeordneter Aspekt in der Verursachung psychischer Erkrankungen betrachtet; und dass wo es doch heute kaum einen toxisch unbelasteten Organismus auf der Erde gibt. Aus diesem Grund nimmt das zu Recht im RW einen größeren Raum ein. Zudem treten psychosozial und toxisch-physiologisch bedingte Übererregung (Entzündung) immer gemeinsam auf. Sie bilden eine dialektische Einheit, bei der mal die eine (z.B. durch Kriegs- und Umweltkatastrophen bedingte Traumata) oder die andere (Gifte wie Pestizide, Schwermetalle, Nanoplastik usw.) im Vordergrund stehen. Sie müssen folgerichtig in ihrem Zusammenhang untersucht, bekämpft und überwunden werden. Mit dieser Thematik hat sich Pawlow gar nicht befasst.
Drittens.
Der RW 38 weist darauf hin, dass jede psychische Aktivität materieller Natur ist und dass Denkweise und körperlich-stoffliche Seite eine dialektische Einheit bilden. Er betont, dass bei psychischen Erkrankungen die Bewusstheit entwickelt und die Betroffenen zu bewusstem Denken, Fühlen und Handeln befähigt werden müssen. Pawlow führte seine wissenschaftlichen Experimente hauptsächlich an Laborhunden durch. Die ausschlaggebende Rolle der Bewusstheit des Menschen spielte er herunter. Wie bei Hunden betrachtete er das Verhalten der Menschen als deterministisch. Er schrieb: »Was aber den Menschen betrifft, hören wir nicht auch jetzt noch von der Willensfreiheit, und ist denn nicht in einer Unzahl von Gehirnen die Überzeugung eingewurzelt, dass in uns ein Etwas ist, dass sich nicht determinieren lässt?« 3 An anderer Stelle spricht er von einer Maschine, was im RW kritisiert worden ist.
Das wurde in der proletarischen Kulturrevolution in China kritisiert, die Entwicklung von Bewusstheit der Erkrankten gefördert mit dem Ziel, die »Wirklichkeit« zu verändern. Pawlows psychotherapeutische Methoden wurden kritisiert, neue psychotherapeutische Verfahren unter Einbeziehung von gemeinsamem Studium und Anwendung der Dialektik angewandt; in die Psychotherapie wurde Umweltschutz, Produktionsbedingungen und familiäres Leben einbezogen, verändert und verbessert. Davon blieb Pawlow weit entfernt.
Viertens.
Folgt man Deinen Briefen, dann hat der Erkenntniszuwachs mit Pawlow aufgehört und es sind keine neuen materialistischen Forschungsergebnisse mehr hinzugekommen. So schreibst Du: »In dem 2004 herausgegebenem Manifest (Gehirn & Geist, 6/2004) von 11 führenden bürgerlichen Neurowissenschaftlern wird zugegeben, dass über das Geschehen zwischen den Verbänden von hunderten oder tausenden Zellen bisher kaum Fortschritte gemacht wurden.«
Seit 100 Jahren sollen keine neuen Erkenntnisse mehr erzielt worden sein? Dieser Standpunkt ist mit dem dialektischen Materialismus unvereinbar, weil die Naturwissenschaft Bestandteil der Höherentwicklung der Produktivkräfte ist. Selbst in der Physik, wo mit der idealistischen Urknalltheorie Materialismus und Dialektik unterdrückt werden, finden wir diese zuhauf. Lenins forderte uns auf, dass wir (die Marxisten-Leninisten) uns mit den zum Materialismus neigenden Wissenschaftlern verbinden, sie für den dialektischen-Materialismus gewinnen müssen. Deinen Briefen muss man entnehmen, dass es zum Materialismus neigende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Psychologie seit Pawlow nicht mehr gibt.
Fünftens.
In Deinem Brief vom 30.05.25 an Stefan schreibst Du, dass Pawlow richtig erforscht habe, »wie die äußere Welt im Nervensystem widergespiegelt wird. Nicht durch ein fertiges neuronales Netzwerk, wie die bürgerliche Hirnforschung behauptet, sondern durch ein dynamisches System zeitweiliger Verbindungen...«. Du kritisierst Stefan und die RW-Redaktion: »Dass es aus Deiner Sicht nicht ganz einleuchtend ist, hängt damit zusammen, dass im RW eine mechanische Widerspiegelung im Gehirn von Joachim Bauer übernommen wird.«
Das entspricht nicht den Tatsachen. Warum machst Du Dir nicht die Mühe, die Spreu vom Weizen zu trennen und die richtigen Seiten und Erkenntnisse der bürgerlichen Hirnforschung kritisch herauszuschälen, anstatt Joachim Bauer eine Theorie von festen, unveränderlichen neuronalen Netzwerken zu unterstellen? Du zitierst selbst das Programm der MLPD, wo es heißt: »Der Sozialismus ist die Zusammenfassung der fortgeschrittensten Ideen und Errungenschaften der Menschheit«. 4 Deiner Meinung nach hat es auf diesem Gebiet in den 100 Jahren nach Pawlow keine mehr gegeben. Ich möchte kurz und unvollständig auf bedeutende Fortschritte der modernen Hirnforschung eingehen.
Der Mensch hat ca. 20 Milliarden Nervenzellen. Weil jede einzelne mit bis zu 10.000 Nervenzellen miteinander verschaltet, verknüpft oder auch voneinander isoliert (gehemmt!) werden kann, kann es viele Billionen verschiedene Verknüpfungsmuster, assoziative Netze geben. Mit ihrer Hilfe können wir uns an Vergangenes erinnern. Nervenzellen bringen die Außenwelt und Innenwelt zusammen, sind elementar an der Widerspiegelung beteiligt; in ihrer Assoziation bilden sie Nervenzellverbände, neuronale Netzwerke, welche von einfachen zu immer komplexeren zusammengeschaltet und nicht dazu gehörende gehemmt, ausgegrenzt werden können. Man kann das mit einem Musikorchester vergleichen, welches durch zeitweilige Assoziation (mal spielen alle, mal nur ein kleiner Teil, die einen forte die anderen piano usw.) unendliche verschiedene Melodien, Akkorde, Läufe, Variationen usw. erzeugen kann.
Das Gehirn spiegelt die Außen- und die körperliche Innenwelt mittels Assoziation, Konzentration und Zusammenfassung wieder. Zu Beginn steht die Bildung erster neuronaler Netzwerke im Mutterleib, welche ständig entwickelt, modifiziert werden bis zum Tod. Assoziation und Dissoziation reichen von einfacher, unimodaler Wahrnehmung , hin zu multimodaler durch Zusammenfassung und Konzentration und bis zur höchsten Form von Netzwerken mit der Eigenschaft der Abstraktion und Bewusstheit. Ständig geprüft und »geschliffen« werden sie in der Praxis – das ist das, was im Abschnitt Psychologie des RW 38 von Joachim Bauer zu den neuronalen Netzwerken beschrieben ist. Diese Erkenntnisse bestätigen die marxistische Erkenntnistheorie, den Weg von sinnlicher zu rationaler und theoretischer Erkenntnis. Der RW 38 kritisiert Bauer schöpferisch, weil in seiner Weltanschauung die Veränderung der Wirklichkeit, der Produktions- und der Klassenkampf keine Rolle spielt.
Sechstens.
In diesen neuronalen Netzwerken sind elementare Erkenntnisse von Pawlow aufgenommen und weiter entwickelt. Damit in den Netzwerken Milliarden oder Billionen Neuronen stumm (gehemmt) oder aktiv sein können, spielen Formen der Erregung und Hemmung eine bedeutende Rolle.
Wenn ein Mensch, entsprechend seiner individuellen Geschichte und Erfahrungen, über zig Tausende, Millionen solch verschiedener Netzwerke verfügt, assoziativ, reproduzierbar und sich stets entwickelnd – wie und wo werden diese gespeichert und reproduzierbar? Wer sorgt für ihre ständige Veränderung?
Zu diesen Fragen haben die Naturwissenschaft revolutionäre Erkenntnisse gemacht, von denen Pawlow nichts wusste bzw. wissen konnte. Jede Nervenzelle verfügt über Tausende Kontaktstellen, Synapsen genannt, die ihr die Bindung oder Trennung mit Nachbarzellen und damit die neuronalen Netzwerke überhaupt erst möglich machen. Mit Hilfe epigenetischer Schalter können Zellen aktiv ins Netzwerk assoziiert oder dissoziiert werden, für die Vermehrung neuer Synapsen gesorgt, Synapsen vergrößert oder verkleinert, Wachstumsfaktoren oder neue Botenstoffe produzieren werden – oder einfach alles stumm auf Hemmung stellt werden. Auf diese Weise können, entsprechend den Anforderungen der Außen-, der Körperinnenwelt, mittels Genaktivität ständig neue Netzwerke gebildet, alte aktiviert, erweitert, umgeformt und andere gehemmt werden. Regulator ist die Außen- und Innenwelt, bestätigt und kontrolliert werden sie über die Praxis. Aber eben nicht nur - sie werden vom Menschen auch durch die Bewusstheit neu geformt und der Mensch in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gebracht. Unter psychischen Erkrankungen werden »falsche«, pathologische Netzwerke gebildet, mit denen die Repräsentation der Wirklichkeit nicht mehr gelingt.
Pawlow wird im RW gewürdigt und dialektisch, d.h. schöpferisch kritisiert. Er lebte in der sozialistischen Sowjetunion und hatte gute Forschungsbedingungen. Er war ein Materialist, aber keineswegs der letzte. Auch der Kapitalismus brachte und bringt materialistisch gewonnene Erkenntnisse hervor. Wäre dem nicht so, wäre die Ausrichtung des RW auf die Bewegung der streitbaren Materialisten unmöglich.
Fortschrittliche, mitunter revolutionäre Naturerkenntnisse der Hirnforschung aus dem »Mist« von Idealismus und Metaphysik herauszuschälen, die Spreu vom Weizen zu trennen und ihre Erkenntnisse für den weltanschaulichen Kampf zu nutzen ist eine unserer Aufgaben.
Herzliche Grüße
C.
1I.P. Pawlow, Zwanzigjährige Erfahrungen, AW III.2, S. 400 ff.; S.418; Experimentelle Neurosen, S.431 ff.
2I.P. Pawlow, Experimentelle Neurosen, AW III.2, S. 431
3ebd., S. 412
4Programm der MLPD, S. 160